Klima der Verunsicherung – Wandel in der Gesellschaft? Eine interessante Diskussionsrunde

 

 

Klima der Verunsicherung – Wandel in der Gesellschaft?
Zu diesem Thema fand am 11.06.16 eine vom Integrationsrat der Stadt Aachen organisierte Podiumsdiskussion statt. Zahlreiche, interessierte Teilnehmer führten mit den Referierenden Frau Prof. Dr. phil. Marianne Genenger-Stricker und Herrn Michael Klarmann eine intensive und offene Diskussion.

In ihrer Begrüßung betonte Frau Paola Blume, Vorsitzende des Integrationsrats. „Wir haben festgestellt, dass in vielen deutschen Städten ein Klima der Hilfslosigkeit und der Angst entstanden ist. Alle fühlen sich unsicher: Deutsche, Migranten sowie Flüchtlinge. Deshalb treffen wir uns heute. Wir wollen miteinander kommunizieren, um die heutige Situation klarer zu sehen“.

Frau Hilde Scheidt, Bürgermeisterin, betonte in ihrer Ansprache, dass Toleranz und Respekt in Aachen einen hohen Stellenwert haben und dass die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge ungebrochen sei. Ständiger Dialog zwischen Verwaltung, Hilfsorganisationen, Bürgerinnen und Bürgern sei dabei eine wichtige Voraussetzung, um Verunsicherungen vorzubeugen. Aachen stehe für eine hervorragende Willkommenskultur.
Frau Demet Jawher begrüßte das Publikum im Namen des Landesintegrationsrates. Sie betonte, der Landesintegrationsrat setze sich seit zwei Jahrzehnten für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben ein: „Langfristige Maßnahmen zu entwickeln, um dieses Ziel zu erreichen, ist dabei unser Grundsatz“.
Zum obigen Thema waren zwei äußerst kompetente Personen eingeladen.
Prof. Dr. phil. Marianne Genenger-Stricker des Fachbereichs Sozialwesen an der KatHO Aachen, sie ist eine anerkannte Wissenschaftlerin, die seit Jahren zu den Schwerpunkten Geschlechterverhältnisse, Migration und Zivilgesellschaft wissenschaftlich arbeitet.
Rechte Einstellungen, kein Randproblem, sondern eins der Mitte der Gesellschaft.

Prof. Genenger-Stricker ging zunächst auf die Globalisierung und Digitalisierung der Gesellschaft in der heutigen Zeit ein und stellte fest, dass es keine kollektiven Identitäten mehr gibt. Die Konsequenzen dieser Transformationen seien für die individuellen Lebensentwürfe äußerst nachhaltig. Es komme zu neuen Geschlechterarrangements und Familienbiografien, nachdem sich traditionelle Verbindlichkeiten aufgelöst haben. Es entstehe eine Überforderungssituation, die sich in der persönlichen Lebenslage der Menschen niederschlage. Hieraus resultierten Unsicherheiten in der Gesellschaft.
Insbesondere Menschen, die über geringe soziale und kulturelle Ressourcen verfügten, fühlten sich überfordert und entkoppelt. Gleichzeitig sähen sie auch nicht, dass sie sich in dieser Situation auf die Politik verlassen könnten. Es fehle das Vertrauen in die repräsentative Demokratie. Sprechen wir von „WIR“ so ist das einfache Volk damit gemeint, während das „SIE“ die PolitikerInnen „da oben“ meinten. Und das sei die zweite Seite der Überforderungssituation.

Als die Kanzlerin Anfang September 2015 die Grenzen öffnen ließ und überzeugend verkündete: „Wir schaffen das“, engagierten sich plötzlich mehrere 100.000
Ehrenamtliche (Pro Asyl) und trugen zu dieser „Willkommenskultur“ bei. Als aber immer deutlicher wurde, dass Frau Merkel an Boden verlor, kippte die Stimmung. Angefangen bei der CSU über Österreich und andere EU-Staaten, verstärkten sich die schon vorhandenen rassistischen Einstellungen. Prof. Genenger-Stricker verwies auf neue Studien, die u.a. zeigen:
1. Rechte Einstellungen sind kein Randproblem mehr, sondern eins aus der Mitte der Gesellschaft.
2. Rassismus kommt im neuen Kleid des Kulturalismus daher. D.h. die  rassistischen Ressentiments werden mit einer religiös-kulturellen, nicht mehr mit einer
phantasierten biologischen Rückständigkeit, begründet. Rassismus verschiebt sich auf den Islam.
3. Dies belege auch eine Sonderauswertung des Islams des Bertelsmann Religionsmonitor 2015: Der Islam sei bedrohlich und passe nicht in die westliche Welt.
Diese Meinung vertreten insbesondere Menschen, die keine Kontakte zu Muslimen haben, während auf der anderen Seite bei Muslimen in Deutschland eine sehr hohe Zustimmung zu gesellschaftlichen Grundwerten (90%) zu verzeichnen sei. Muslime fühlen sich eng mit unserem Staat verbunden.
Rechtsextreme Aktivitäten im Raum Aachen
Zu diesem Thema referierte Michael Klarmann, frei schaffender Journalist aus Aachen. Seit vielen Jahren klärt der ehemalige „Preisträger des Bürgerpreises für Zivilcourage der StädteRegion Aachen“ über rechtsextreme Aktivitäten im westlichen NRW auf.
Klarmann schilderte in einem kurzen Impulsreferat, welche Parteien und Gruppierungen am rechten Rand in Aachen aktiv sind. Er wies auf die Rolle rechter Aufmärsche in Aachen, Linnich und Stolberg hin. Auch stellte er dar, wie eine neonazistische Gruppe unter anderem die Zuwanderung als „Genozid an Weiße“, initiiert durch Demokraten und  Humanisten bezeichnete. Ihrer Propaganda nach seien ausnahmslos alle Migranten Kriminelle und alleine durch die Zuwanderung würde Europa so immer mehr zu einem „KZ für Weiße“. Auf diese Weise relativierten Neonazis zugleich den planmäßigen,
industriellen Massenmord der Juden durch ihre historischen Vorbilder. Auch wenn so etwas absurd klinge, gebe es immer mehr Menschen, die solche abwegigen Meinungen glaubten, was eine enorme Gefahr für die Demokratie sei, sagte Klarmann. Anhand von Zitaten aus regionalen Diskussionsgruppen bei Facebook belegte der Journalist zudem, dass die Gesellschaft immer mehr verrohe, was ebenso eine enorme Gefahr darstelle.
Ganz „normale“ Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte, die sich zugleich rührend im Tierschutz engagierten, forderten andererseits zu roher Gewalt und Mord gegen Asylsuchende, Muslime, Politiker und Journalisten auf.

Die anschließende Diskussion der Teilnehmer zeigte Betroffenheit, Offenheit und großes Engagement. „Es müsste mehr Veranstaltungen wie diese geben“, war der allgemeine Tenor, denn Aufklärung sollte immer und überall vor Urteilsbildungen stehen.
Bericht von Paula Blume, Amir Ghaei und Dagmar Vogeler-Yildirim

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